Kanban ist ein hoch performantes Instrument zur Steuerung von Wertflüssen. Korrekt konzipiert, geschickt eingeführt und bewusst angewendet, erhöht es nicht nur Ihre Profitabilität, sondern stellt gleichzeitig eine wichtige Zwischenetappe in der Transformation hin zu einer wirklich agilen Organisation dar. Die Einführung darf nicht unterschätzt werden und bedarf einigen fachübergreifenden Wissens und einiger Erfahrung. Das Team muss partizipativ in den Prozess involviert und transformativ begleitet werden.
Was Kanban ist
Den Wert einer Wertflusssteuerung im Gegensatz zur Auslastung von Ressourcen habe ich ausführlich in Artikel «Steuern Sie schon Wertflüsse oder lasten Sie noch Mitarbeiter aus?» dargelegt. Ebenso habe ich in diesem Artikel erwähnt, weshalb so viele Firmen weiterhin Ressourcen steuern, wo doch die Steuerung von Wertflüssen sehr viel performanter wäre: Fluss ist in vielen Betrieben eine abstrakte Grösse. Visualisiert man den Fluss nicht, sieht man ihn nicht! Der Anfang aller Flusssteuersysteme liegt somit in der Visualisierung der Wertflüsse.
Die Methode Ihrer Wahl könnte Kanban sein. Das von Taiichi Ōno in der japanischen Toyota Motor Corporation entwickelte und von David J. Anderson auf die Wissensarbeit adaptierte Kanban System eignet sich optimal zur Visualisierung und Steuerung von Wertflüssen aller Art und jeder Branche auf unterschiedlichen Flughöhen.
Kanban ist im Kern nichts anderes als ein Kärtchensystem. Seit der Corona-Massnahmen im Jahr 2020 hat fast jede Bürgerin und jeder Bürger (der Schweiz) im Kaufhaus mitgekriegt, um was es geht: Das Kaufhaus mit 200m2 Fläche wird auf maximal 50 Personen begrenzt. Es stellt 50 Kärtchen aus, jeder eintretende Kunde erhält eines. Sind die 50 Kärtchen vergeben, wird der Eingang blockiert. Die Kunden warten, schön aufgereiht in einer Kolonne, bis an der Kasse wieder ein Kärtchen frei wird. Anstatt blindlings Kunden in das Kaufhaus hineinzudrücken, die sich dann eh an der Kasse wieder aufstauen und das Kaufhaus überfüllen würden, werden neue Kunden erst wieder zugelassen, wenn die Kapazität im Kaufhaus dafür vorhanden ist. Entlang der Lean Prinzipien von Womack & Jones entsteht aus dem vorherigen Push-Mechanismus jetzt ein Pull-Mechanismus. Statt hoher Ressourcenlast entsteht optimaler Fluss. Den vor dem Kaufhaus stehenden Kunden kann mit hoher Verlässlichkeit vorhergesagt werden, wann sie drankommen. Geschickt eingeführt könnten sie somit vorgängig noch etwas anderes erledigen und termingerecht zum Eintritt zurückkommen.
Wie Kanban in Organisationen konkret aussehen kann
Firmen haben oft exakt dasselbe Problem: Aufträge und Rohmaterial werden in die Firma hineingedrückt. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden ausgelastet. Irgendwo entsteht ein Engpass, ein sogenannter Flaschenhals, der arg überlastet wird. Vor dem Engpass stauen sich die Aufträge und das Material. Der Arbeitsfluss kommt ins Stocken.
Da man den Wertfluss in vielen Organisationen nicht sieht, muss man ihn zuerst einmal visualisieren: Welche Arbeitsschritte (Wertschöpfungsstufen) durchläuft ein Auftrag oder ein rohes Stück Material? Das ergibt dann die Spalten des Kanban Systems.
Damit ein echter Pull-Mechanismus entsteht, wird jede Spalte in «In Progress» und «Done» unterteilt. Die fertige Arbeit des Wertschöpfungsschrittes «A» wird also nicht blind einem Team oder einer Person aufgedrückt, die den Arbeitsschritt «B» vollziehen sollen, sondern ganz einfach in der Zwischenspalte «Done» abgelegt. Die für die Arbeit «B» zuständigen Personen ziehen sich die Arbeit aus dem «Done» in Spalte «A», sobald sie freie Kapazität dafür haben.
Werden Sie Meister im Priorisieren und Limitieren!
Neben den Wertschöpfungsschritten wird insbesondere auch der Übergang von den unzähligen gewünschten Arbeiten zu den für die Umsetzung zugesicherten und verkraftbaren Arbeiten sichtbar gemacht. In der Optionen-Wolke, im Bild oben «Options» genannt, können sich externe Kundenaufträge, interne Initiativen der Geschäftsleitung, teaminterne Verbesserungsmassnahmen, Innovationsideen, etc. befinden.
Ich kenne aus der Praxis praktisch keine Organisation, die nicht sehr viel mehr Aufträge und Ideen hat, als sie wirklich stemmen kann. Viele Organisationen fühlen sich damit überlastet und sind nicht in der Lage, faktenbasiert zu priorisieren. Sie erhöhen den Druck auf die Belegschaft und überladen das Arbeitssystem, was oft zu Stau führt. Neben steigender Hektik sinkt die Gesamteffizienz und damit die Profitabilität.
Geschickter wäre es, sauber zu visualisieren und faktenbasiert zu priorisieren. Genau so, dass der maximal mögliche und ständig optimierte Wertfluss erhalten bleibt. Das ist meist ein neuralgischer Punkt, der mit Teams auf jedwelcher Stufe sehr genau analysiert werden und diskutiert werden muss, um dann richtig optimiert werden zu können.
Hat man den Arbeitsfluss visualisiert, beginnt man, das System zu limitieren. Man sucht nach dem begrenzenden Engpass im System und setzt am richtigen Ort die richtigen Work-in-Progress Limiten, die auch WIP-Limiten genannt werden. Was zunächst Ängste auslöst und intuitiv mit Aussicht auf «weniger Leistung» und «weniger Durchsatz» assoziiert wird, ist in Tat und Wahrheit das Gegenteil. Sie können machen, was Sie wollen, sie kriegen eh nicht mehr durch Ihr System durch, als es der Engpass zulässt.
Durch die Begrenzung werden jetzt plötzlich Ressourcen frei, die gerade mal nichts zu tun haben. Würden sie arbeiten, wären sie in Tat und Wahrheit unproduktiv und führten wiederum zum Verstopfen des Gesamtsystems. Stattdessen überlegen Sie sich nun, wie Sie diese frei gewordenen Ressourcen geschickter einsetzen können, beispielsweise für Massnahmen zur Unterstützung im Engpass, zur kontinuierlichen Verbesserung, für die Entwicklung neuer Produkte und Innovationen, etc.
Der korrekte Betrieb will gelernt sein
Schlussendlich entwirft man die zum Betrieb von Kanban notwendigen Zeremonien und Meetings. Kanban setzt auf nur drei Zeremonien und achtet streng auf minimalen administrativen Aufwand:
- Das Replenishment Meeting (Abfüll-Meeting), dient dem faktenbasierten Priorisieren und Abfüllen von Ideen aus der obgenannten Optionen-Wolke ins System der zur Umsetzung zugesicherten Arbeiten. Klaus Leopold nennt das Replenishment Meeting auch «Spice Girls Meeting», «what you really, really want”. Es gibt nicht alles, Sie müssen Meister im Priorisieren werden, wenn Sie wahrhaftig Wirkung erzeugen wollen! Was ist Ihnen wirklich wichtig?
- Das Standup Meeting dient dem regelmässigen und teambasierten strategischen Austausch zur Bewahrung des konstanten Flusses. Wo kommt die Arbeit nicht wie gewünscht voran, wer kann wo unterstützen, wie bringen wir die Arbeitseinheiten wieder zum Fliessen. Hier geht es eben nicht, wie oft in der Praxis erlebt, um eine egozentrische Verkaufsshow. Zur hören, wie gut ich gestern gearbeitet habe und wie noch viel besser ich morgen arbeiten will, hat für das Team nicht den geringsten Mehrwert. Echten Mehrwert bringt der Austausch darüber, wo Probleme und Herausforderungen angetroffen wurden, die den Wertfluss behindern. Und dann wird kurz geklärt, wer wen unterstützen könnte und welche Massnahmen notwendig sind, damit es weiterfliessen kann.
- Die Retrospektive dient einerseits dazu, das eigene Kanban System eigenhändig stetig zu verbessern. Andererseits können hier auch Flussmetriken betrachtet, Engpässe gesucht und WIP-Limiten reflektiert und angepasst werden. Auch soziale Spannung gehören mit in die durch das Team anzusprechenden Punkte. Es erstaunt mich immer wieder, wie viele Teams keine solche Retrospektiven machen. Fast alle wissen, dass es sinnvoll wäre. Viele haben es schon mal versucht. Nur wenige praktizieren es auf hohem Niveau.
Nur Teams, die den Unterschied zwischen einer Flussteuerung und dem Auslasten von Ressourcen wirklich verstanden haben (und damit auch erklären können..), sind in der Lage, diese Zeremonien vorbildhaft zu leben, und das volle Potential von Kanban wahrzunehmen.
Wie man Kanban optimal einführt
Bei der Einführung von Kanban werden in der Praxis unzählige Fehler gemacht. Das führt zu Widerständen bei den Mitarbeitern, zu abgebrochenen Einführungsprojekten oder «bestenfalls» zu einem «nur» verunstalteten Einsatz von Kanban.
Oft denken die Menschen und Teams in alten Denkmustern und planen und steuern trotz des neuen Systems faktisch weiterhin Kapazitäten und Auslastungen. Das neue Denken auf der Ebene von Wertflüssen schaffen zu Beginn nur wenige. Das führt zu Kanban Systemen, die keine echten Wertflüsse sichtbar machen, sondern eher Task-Tracking-Tools aus der Projektwelt gleichen.
Da mit korrekt eingeführten Kanban Boards auch sehr viel Transparenz im Wertfluss geschaffen wird, können durchaus auch Ängste und Vorbehalte in der Belegschaft auf allen Hierarchiestufen und in allen Rollenmodellen entstehen. Wird einem Team ein neues Kanban System aufgedrückt, ist der Widerstand vorprogrammiert und die Einführung droht zum Rohrkrepierer zu werden. «Ihr müsst jetzt agil werden und neu mit diesem Kanban arbeiten, die Vorgesetzten wollen das so», ist so ein konkretes Beispiel aus meiner Arbeitspraxis, das ich im Nachgang mit sehr viel Aufwand abfedern und die negativen Energien umlenken muss.. 😉
Sehr viel geschickter ist es, das Team in den Entstehungsprozess zu involvieren. Die Personen, die mit Kanban arbeiten sollen, müssen zunächst einmal den Kern und die Essenz von Kanban verstehen. Wertfluss ist eine abstrakte Grösse, ihre bisherige Denk- und Handlungsweise war auf die Steuerung von Ressourcen fokussiert. Das erfordert Wissen und etwas Begleitung, bis es verinnerlicht ist. Nur Wissen ohne Begleitung reicht in der Regel auch nicht, die Menschen fallen zu oft und zu schnell wieder in ihre alte Denkweise zurück.
Ich schaffe es beispielsweise fast immer, Manager mit höchsten Bildungsgraden nach dem ausführlichen Erklären der Flusstheorie, mit einer einzigen Fangfrage wieder aufs Glatteis zu bringen, wo sie mir im alten Denkmuster der Ressourcenauslastung antworten.
Kanban als wichtige Zwischenetappe in der agilen Transformation
Nicht nur steigert sich nach der erfolgreichen Einführung von Kanban sicht-, mess- und spürbar der Wertfluss und damit die Profitabilität der Organisation. Auch macht die Arbeit den involvierten Menschen sehr viel mehr Spass. Die operative Hektik geht verstärkt über in Freude und Stolz an der Wirkungserzeugung. An die Stelle von der egozentrischen Auslastung seiner selbst tritt der Fokus auf die gemeinsame und teambasierte Steuerung des Wertflusses. Das allein reicht als Grund, um Kanban einzuführen.
Aber Kanban erzeugt auch aus transformativer Sicht eine hohe Wertigkeit in unseren aktuellen Firmenkonstellationen. Wie mit einem meiner nächsten Artikel ausgelegen werde, erzeugen Transformationsvorhaben insbesondere dann Wirkung, wenn die menschliche und die organisatorische Reife- und Entwicklungsstufe aufeinander abgeglichen werden. Kanban ist ein wichtiges Organisationsinstrument, das die Entwicklung von der Stufe 5 (Expertenorganisation) auf die Stufe 6 (Leistungs- und ergebnisorientierte Organisation) fördern und die Entwicklung in der Stufe 6 verankern kann.
Echte Agilität überfordert viele heutige Organisationen und ihre Menschen, weil sie Stufe 7 (Visionär-partizipative Organisation) erfordern. Kanban als Instrument zur Wertflusssteuerung ist ein wichtiges und durchaus zentrales Element zur Planung von agilen Transformationsvorhaben, eine Art Zwischenetappe auf dem Weg, den man zuerst erreichen und integrieren muss. Mit Kanban führt man faktisch auf Stufe 6 die Basis von Agilität ein – den echten Wertfluss -, ohne aber über Agilität reden zu müssen. «Doing Agile» nennen wir es auch. «Beeing Agile», also das intrinsische Vorleben von Agilität als normalen Arbeitsmodus beginnt auf Stufe 7.
Anhang
Empfohlene Lektüre: Kanban in der Praxis, Klaus Leopold. Vom Teamfokus zur Wertschöpfung
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by Andre_Wermelinger
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Wie im Strassenverkehr so in der Fabrik und im Büro: Bei maximaler Auslastung der Ressourcen steigen die Durchlaufzeiten durch die Organisation. Der Wertfluss beginnt zu stocken, was im Extremfall zum Stau im System führt. Die aktive Steuerung von Wertflüssen hingegen befreit bislang gebunden geglaubte Ressourcen, die zur Erhöhung der Gesamtprofitabilität eingesetzt werden können. Die Umstellung […]